|
Die Politisierung von Geisteskranken und der Umgang mit Psychopharmaka
von Rudi Zimmerman
Die Straftat von Hanau am 20.2.2020
Liebe Freundin, lieber Leser,
Heute hört man in den Nachrichten, dass in Hanau eine rechtsextreme Straftat verübt worden sei. Der Täter habe 9 Menschen ausländischer Herkunft, seine Mutter und sich erschossen. Nebenbei wird erwähnt, der Täter hätte die Überzeugung gehabt, seit seiner Geburt von Geheimdiensten überwacht worden zu sein.
Jedem Normalbürger und natürlich jedem psychiatrisch Fachkundigen ist dabei klar, dass der Täter "nicht ganz dicht" gewesen sein kann oder “einen Sprung in der Schüssel” hatte, der Fachmann denkt an eine paranoide Schizophrenie bei dem Täter, der für die Tat nicht schuldfähig sein könnte. Fachleute werden allerdings nicht gefragt, liebe Freundin, die Tat eines psychisch schwer kranken Menschen wird in der staatstreuen Einheitspresse als politisch motiviert dargestellt, um Stimmung für die regierende Elite zu machen, damit der Wähler weiß, welche Partei er bei der nächsten Wahl nicht zu wählen hat.
Der Umgang mit psychisch Kranken
Lieber Freund und liebe Freundin, unsere Gesellschaft hält es offensichtlich für "liberal", Geisteskranke nicht mehr medikamentös zu behandeln.
Die Unterbringung und Behandlung dieser Menschen in einer psychiatrischen Klinik wird durch Unterbringungsgesetze, die Sache der Länder und nicht des Bundes sind, geregelt. Um psychisch Kranke gegen ihren Willen zu behandeln, müssen diese sich selbst oder andere ernsthaft gefährden. Vorübergehend kann dies die Polizei mit einem Arzt, der die Geisteskrankheit bescheinigt, entscheiden, schon am nächsten Tag muss dann ein Richter eine Entscheidung treffen. Der Richter handelt natürlich nach dem Gesetz, aber er wird dabei in vielen Fällen von den gleichen Gefühlen beeinflusst, die in der Öffentlichkeit vorherrschen: die armen Kranken werden in der Klinik mit Medikamenten vollgestopft und vor diesen Misshandlungen durch die Psychiater muss man sie schützen. Die Folge davon ist, dass viele Menschen, die an einer paranoiden Schizophrenie leiden, nicht gegen diese Erkrankung behandelt werden. Sie fühlen sich weiter verfolgt und sie selbst und die Gesellschaft muss mit ihrer Krankheit klar kommen. Die gestrige Tat zeigt, wozu das führen kann. Begehen sie Straftaten, kommt das Strafgesetz zur Anwendung. Sind sie wegen Ihrer Erkrankung schuldunfähig, wie höchstwahrscheinlich der gestrige Täter in Hanau, werden sie im Falle einer solchen oder anderen schwerwiegenden Tat auf unbestimmte Zeit zu einer Maßregel in einer streng geschlossenen Klinik verurteilt.
Die Nichtbehandlung Geisteskranker
Für Krebskranke oder Menschen, oder HIV positiv sind oder für Menschen, die an körperlichen Schmerzen leiden – und natürlich für alle anderen körperlich Kranken – wird nahezu unbegrenzt Geld ausgegeben (von den Krankenkassen und den Betroffenen selbst), selbst wenn die Behandlungsmaßnahmen nicht zu einer Heilung führen. Menschen hingegen, die beispielsweise an einer Schizophrenie leiden, werden allein gelassen und bleiben unbehandelt, obwohl wirksame Medikamente zur Verfügung stehen. Das hat nun allerdings einen ganz einfachen Grund, lieber Leser, der nichts mit den Finanzen zu tun hat: diese Menschen sind krankheitsuneinsichtig und fühlen sich gesund. Daher müssten sie gegen ihren ausdrücklichen Willen behandelt werden. Und vor dieser Zwangsbehandlung schreckt nicht nur unsere Gesellschaft zurück, sondern auch unsere Ärzte und unsere Juristen. Selbst Ärzte und insbesondere auch Psychiater scheuen sich heutzutage, die Verantwortung dafür zu übernehmen, einem Geisteskranken die Behandlung zukommen zu lassen, die ihm und der Gesellschaft helfen würde, nämlich eine Behandlung mit Psychopharmaka (das sind Medikamente, die auf die Psyche wirken), in diesem Fall mit Neuroleptika (Medikamente, die gegen Psychosen wirksam sind).
Die Gabe von Psychopharmaka an psychisch Gesunde
Auf der anderen Seite schaut die Gesellschaft weg, wenn psychisch Gesunde – beispielsweise unruhige Kinder, Alte oder Häftlinge - mit Psychopharmaka "behandelt" werden, ohne dass die entsprechende psychiatrische Diagnose vorliegt. In der Schule, in der Haftanstalt oder im Altenheim soll Ruhe herrschen, es fehlt an Personal. Dieser Personalnotstand wird häufig dadurch kompensiert, dass die "Störer", die die Zeit des Personals über Gebühr in Anspruch nehmen würden, mit Psychopharmaka ruhig gestellt werden. Leider findet sich immer ein Arzt, der irgendeine psychische Störung oder Krankheit bescheinigt.
Ich selbst, liebe Freundin und lieber Leser, habe das in meiner beruflichen Laufbahn als Gerichtssachverständiger nach der "Wende" erlebt. In der DDR (DDR= Deutsche Demokratische Republik – jüngere Leser wissen das vielleicht gar nicht mehr) bekamen politische Häftlinge, die beispielsweise wegen eines Fluchtversuches in Untersuchungshaft waren, zur Beruhigung nicht nur Schlaf- und Beruhigungsmittel, sondern auch antipsychotisch wirksame Mittel und auch ein Neuroleptikum, das nur im Falle einer schweren Schizophrenie verabreicht werden durfte, weil Nebenwirkungen mit Todesfällen durch Blutbildungsstörungen beobachtet worden waren. Ein Arzt, der dies zu verantworten hatte, wurde nach der Wende angeklagt und freigesprochen. Ein russischer Arzt hatte als Zeuge ausgesagt, dass dieses Medikament auch in Russland bei vergleichbaren Fällen angewandt wird. Für die Richter lag es daher in der ärztlichen Freiheit des Angeklagten, auch in den angeklagten Fällen davon Gebrauch gemacht zu haben. Man wundert sich über die Milde der Richter, wenn es um Straftaten von Ärzten und medizinischem Personal geht. Wahrscheinlich verfahren die Haftärzte in Haftanstalten der BRD (Bundesrepublik Deutschland) nicht anders. Auch alte Menschen leben in der BRD gefährlich. In einem anderen Fall gab ein Krankenspfleger eigenmächtig ohne ärztliche Anweisung einer alten Dame im Heim ein Neuroleptikum zur Beruhigung. Die alte Frau verstarb anschließend. In meinem Gutachten kam ich zu dem Ergebnis, dass ein Kausalzusammenhang Bestand (kausal = ohne diese Gabe wäre die Dame nicht in dieser Nacht verstorben). Das Gericht verzichtete daraufhin auf meine weitere Teilnahme an der Hauptverhandlung.
Fazit
Einerseits kann man aus meiner Sicht von einem Missbrauch von Psychopharmaka, der in unsere Gesellschaft verschleiert wird und unbestraft bleibt, sprechen. Andererseits werden Psychopharmaka da nicht angewendet, wo sie ärztlicherseits indiziert wären, weil der Patient sie in der ersten Zeit ungern freiwillig einnimmt bzw. die Einnahme anfangs ablehnt. Dem gestrigen Täter von Hanau hätten ein Neuroleptikum mit Sicherheit geholfen und den Massenmord sowie seinen Selbstmord verhindert.
Wahrscheinlich ist dies auch nicht die einzige Tat eines schuldunfähigen Täters gewesen, die in der Presse als politisch motiviert dargestellt wurde. Eine sachliche Diskussion über den Einsatz von Psychopharmaka und insbesondere Neuroleptika wäre wohl angebracht, scheint mir jedoch nicht möglich zu sein, da es einerseits ein starkes Interesse gibt, Psychopharmaka ohne ärztliche Indikation anzuwenden und andererseits eine Ängstlichkeit, Neuroleptika dort anzuwenden, wo sie indiziert wären.
In Zukunft muss daher mit weiteren Morden und Massenmorden - und natürlich mit Selbstmorden - unbehandelter schizophrener Menschen gerechnet werden. Andererseits muss auch mit Erschießungen von unbehandelten Geisteskranken gerechnet werden, die in ihrem Wahn Polizisten - z.B. mit einem Messer, wie vor einigen Jahren am Alexanderplatz in Berlin - angreifen. Dies ist die traurige Realität. Die gesellschaftlichen Folgen könnten allerdings immer dramatischer werden.
Euer trauriger Rudi Zimmerman, Gesellschaftsanalytiker Berlin, den 20.02.2020 |