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Die Grundformen der Liebe und die Idee einer gleichberechtigten Gesellschaft Sexuelle und symbiotische Liebe
von
Rudi Zimmerman
Liebe Freundin, lieber Leser,
der Psychoanalytiker Fritz Riemann veröffentlichte eine Studie über vier Grundformen der Angst. Ich versuche mich einmal mit den zwei Grundformen der Liebe.
Bereits in meiner Berufstätigkeit als forensischer Gutachter1 habe ich 2009 die beiden Grundformen der Liebe in einem Aufsatz in der Zeitschrift "Archiv für Kriminologie" veröffentlicht. Es handelt sich um die körperliche Liebe, genannt Sexualität, und die symbiotische Liebe. Seinerzeit habe ich sie als narzisstisch bezeichnet. Mit letzterem war nicht die Selbstliebe des Narziss, wie Sigmund Freud das sieht, gemeint, sondern das Grundbedürfnis jedes Menschen nach Anerkennung, Zuwendung oder Bestätigung durch den Mitmenschen, die Gesellschaft, eben durch die Menschen seiner Umgebung. Das Bedürfnis nach dem Gespiegelt-werden sozusagen. Ein Bedürfnis, das bereits der Säugling hat und das durch die gesunde Mutter befriedigt wird. Und natürlich auch durch den Vater, lieber Leser. Dies dann allerdings etwas später, wenn es nicht mehr um das Überleben geht, das Gesäugt-werden, sondern um das Größer-werden, das Wachstum und das Erlernen menschlicher Fertigkeiten, deren wichtigste das Laufen und Sprechen sind. Durch den aufrechten Gang, durch den die Hände zum Arbeiten frei werden, und durch die Sprache, wird der genetische Mensch ja erst zum geistigen Menschen, zum bisherigen Endglied der Evolution. Diese Grundform der Liebe hat, darauf möchte ich gleich zu Beginn hinweisen, 2 Seiten. Es geht ihr nicht nur darum, Anerkennung zu finden, sondern auch darum, Anerkennung, Zuwendung, Zärtlichkeit und Spiegelung zu geben. Die Befriedigung besteht hier auch darin, diese Art der Liebe zu geben. In dieser Art von Liebe verschmelzen die Partner zu einer Einheit. Daher bezeichne ich sie nunmehr als die symbiotische Grundform der Liebe.
Die sexuelle Liebe
Über diese Art der Liebe brauche ich nicht viel zu sagen, deshalb beschränke ich mich hier auf die Korrektur gesellschaftlich anerkannter Fehlmeinungen. Die erste Fehlmeinung ist die Ansicht, dass die sexuelle Betätigung des Menschen dem männlichen und dem weiblichen Menschen die gleiche Art der Lust bereitet.
Diese Fehlmeinung ist – genau genommen – auch keine gesellschaftliche Fehlmeinung -, sondern eine männliche Fehlmeinung. Die menschlichen Gesellschaften, egal ob es sich um westliche abendländische, oder um morgenländische Gesellschaften handelt, sind männerdominiert. Was richtig oder falsch ist, bestimmen männlich denkende Wesen, selbst wenn es sich biologisch um Frauen handelt. Die Männer jeder dieser Kulturen haben Religionen entwickelt und sich Götter ausgedacht, die angeblich dem Mann die führende Rolle in der Gesellschaft zuweisen und die Frauen zu deren Dienern degradieren. Der Psychoanalytiker Alfred Adler hat uns sehr schön klar gemacht, was die Wurzel dieses Machtstrebens und der Erniedrigung der Frauen ist: es ist die Minderwertigkeit des Mannes. Mit Hilfe der Religionen und des monotheistischen Gottes versucht der Mann in allen derzeit existierenden Gesellschaften, sein Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Biologisch ist der Mann unfähig, ein Kind auszutragen und im ersten Lebensjahr mit Hilfe seiner Milch zu ernähren. Deshalb leidet er an einem kollektiven Minderwertigkeitskomplex, den er überkompensieren muss. Deshalb hat er Gesellschaften mit faschistischer Herrschaftsstruktur geschaffen, Gott, den Führer im Jenseits erfunden, und kirchliche sowie weltliche "Würdenträger" installiert, die natürlich männlichen Geschlechts sind und darüber entscheiden, was angeblich gottgewollt und gottesfürchtig ist. Dem ist dann auch das sexuelle Verhalten unterworfen. Die biologische Aufgabe des Mannes, seine Spermien zu verbreiten, die von der Natur mit einem sexuellen Orgasmus bei dem Samenerguss belohnt wird, wird dann dementsprechend als gottgewollte Betätigung verbrämt und der Frau die Aufgabe zugewiesen, den Mann anzuhimmeln und den Nachwuchs zu ernähren. Dem Mann ist die Beschützerrolle zugewiesen, der damit die göttliche Aufgabe hat, seinen Leben im Krieg zu opfern.
Ich spreche hier stilisiert von der Rollenaufteilung, die einerseits genetisch programmiert ist und andererseits ihren Niederschlag in dem gesellschaftlich-religiösen Überbau der Kulturen gefunden hat, wie sie zum großen Teil heute noch existieren, obwohl sie längst durch die Weiterentwicklung der Zivilisation überholt sind oder sein sollten.
Tatsächlich findet man diese männlich-faschistischen Gesellschaftsstrukturen, die ihren Niederschlag im autoritären Charakter der Individuen (Erich Fromm, Wilhelm Reich) gefunden hat, seit Jahrtausenden in allen Gesellschaften und leider auch noch heute. Kulturell unterschiedlich ist lediglich die Übernahme der Verantwortung für das biologisch gesteuerte Triebverhalten. In westlichen Gesellschaft ist der Mann bemüht, seinen Sexualtrieb zu steuern und übernimmt die Verantwortung für Triebdurchbrüche selbst. In östlich-morgenländischen Gesellschaften schreibt der Mann der Frau die Verantwortung für seine sexuellen Triebimpulse zu und verhüllt daher das Objekt, das ihn sexuell reizt. Die Frau, also das Triebobjekt im psychoanalytischen Sinn, hat Schuld an seinem Trieb, nicht er selbst als gottähnliches Wesen.
Der theoretische und religiöse Überbau ist zwar kulturellen Unterschieden unterworfen, biologisch gesehen steht wissenschaftlich jedoch fest, dass der gesunde Mann in der Regel seinen Orgasmus beim Geschlechtsakt hat – und natürlich bei der Selbstbefriedigung -, während für die Frau dieser Orgasmus eine geringere Bedeutung hat und seltener bei der Kopulation auftritt.
Dieser wissenschaftliche Konsens bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Das Balzverhalten
Es sei kurz erwähnt, lieber Leser, dass das Balzverhalten im Tierreich und auch die Rivalenkämpfe zeigen, dass der Mensch, besonders in seiner männlichen Erscheinungsform, sich noch nicht weit vom Tierreich entfernt hat und sein Sexualverhalten genetisch-hormonell von den Interessen der Art bestimmt wird. Lediglich die Mittel, die zum Balzen eingesetzt werden sind kulturell und zivilisatorisch überlagert. Mit dem Begriff "Kultur" bezeichne ich Unterschiede verschiedener Volksstämme usw.. Zivilisation ist für mich die Fortsetzung der Evolution, also die Benutzung von Erfindungen der Menschen, die die biologischen Fähigkeiten der Individuen verbessern. Beispielsweise wird das Auto als Ergänzung der Fortbewegungsorgane gern zum Balzen verwendet und im Grunde alles, was durch die Einführung des Geldes käuflich geworden ist. Der Penis ist durch den Umfang der Brieftasche bzw. durch das Bankkonto ersetzt worden.
Der Mensch hat sich hierdurch lediglich neue Möglichkeiten des Balzens geschaffen.
Der Sexualtrieb als Selbsterhaltung und Selbstentfaltung lebender Systeme höherer Ordnung
Weitgehend unbekannt ist jedoch, was dieser Sexualtrieb eigentlich ist. Um das zu erkennen, benötigt man die Erkenntnis, dass lebende Systeme – wie natürlich auch nicht lebende Systeme – in hierarchischen Stufen existieren. Arthur Koestler (und andere) bezeichnet diese als "Holon"s.
Bei nicht lebenden Systemen beginnt dieser Aufbau der Natur aus kleinsten Einheiten bei den Atomen, bei Lebenden Systemen bei der Zelle. Die nächst höhere Stufe ist hier das Individuum. Es setzt sich aus vielen Zellen zusammen. Die nächst höhere Stufe bezeichne ich als Hypersystem (z.B. Staat als höchstem Hypersystem), darüber gibt es die von mir so genannten Suprasysteme (überstaatliche Finanz- und Produktionseinheiten beispielsweise, aber auch Religionsgemeinschaften). Ein derartiges, dem Individuum übergeordnetes lebendes System, ist auch die sogenannte Art. Alle Menschen bilden eine Tierart, weil sie sich miteinander vermehren können.
Des weiteren ist wichtig zu wissen, dass auch diesen Hyper- und Suprasystemen die allgemeinen Naturtendenzen innewohnen: nämlich der Wunsch nach Selbsterhaltung (nach Überleben) und nach Selbstentfaltung (nach Wachstum). Aus diesen beiden Prämissen ergibt sich logisch, dass der Sexualtrieb keine Eigenschaft des Individuums ist. Der Sexualtrieb ist also eine Eigenschaft des Systems Art (Tierart, ein Suprasystem).
Das Individuum, der einzelne Mensch, ist lediglich das Werkzeug, dessen sich die Art bedient, um sich selbst zu erhalten und um zu wachsen (=Selbstentfaltung).
Der Art geht es um die räumliche Ausbreitung ihrer Eigenschaftsträger, also um die Ausbreitung der genetisch gespeicherten Information. Die Individuen sind lediglich vorübergehende (sterbliche) Träger dieser Information und sie haben die Funktion, diese Information zu vermehren – und damit auszubreiten. Das Lustgefühl, das beim sexuellen Orgasmus auftritt, ist lediglich das "Bestechungsgeld" der Natur, also hier der Art, das dem Individuum in Aussicht gestellt wird, wenn es die Informationsträger der Art verbreitet. Diese Informationsträger sind die Chromosomen in den Zellkernen der männlichen Spermien und der weiblichen Eizellen. Wird ein Kind gezeugt, geboren und lebt, lebt damit auch ein materieller Teil seiner Eltern weiter und überdauert damit den Tod der elterlichen Individuen. Es lebt nämlich ein haploider Chromosomensatz der mütterlichen und der väterlichen genetisch gespeicherten Information im Kind weiter. Aus meiner Sicht ist dabei allerdings nicht das Überleben eines kleinen Teils elterlicher Materie entscheidend, sondern das Fortleben der darauf gespeicherten Information – also des geistigen Inhalts dieses Körperteils. Die Gene sind ja nur die materiellen Träger von etwas Geistigem - der Information über die Konstruktion eines Individuums dieser elterlichen Bauart.
Aber das nur nebenbei, liebe Freundin.
Für unser Thema halten wir nur fest, dass die Natur uns Individuen ein Lustgefühl schenkt, das bei der Frau und beim Mann in etwas unterschiedlicher Weise und Häufigkeit auftritt, wenn die elterlichen Individuen einen Akt ausführen, der der Verbreitung genetisch gespeicherter Information der Art (also einer uns übergeordneten lebenden Systems) dienen kann. Dass der Mensch inzwischen dieses Bestechungsgeld der Natur in Empfang nehmen kann, ohne diesen Willen der Natur zu erfüllen, indem er nämlich Empfängnisverhütung betreibt, steht auf einem anderen Blatt.
Kommen wir nun zu der anderen Grundform der Liebe, deren Grundlage natürlich auch biologischer Natur ist.
Die symbiotische Liebe
Diese Grundform der Liebe wird natürlich auch genetisch über die die Ausschüttung bestimmter Hormone biologisch gesteuert. Bei der sexuellen Liebe sind es die sogenannten Sexualhormone, hier insbesondere das Oxytocin.
Bei den Säugetieren ist es besonders wichtig, dass sich die Eltern, besonders natürlich die Mutter, um den Nachwuchs kümmern. Und auch dieses Kümmern um ein hilfloses Wesen belohnt die Natur mit einem Befriedigungsgefühl. Das Besondere an diesem Gefühl ist, dass es sozusagen symbiotisch ist. Es tritt in beiden Partnern der Situation auf, es ist ein Geben und Nehmen, eine Interaktion. Es bereitet dem gebenden Partner der Interaktion ein Glücksgefühl, dem nehmenden Partner etwas zu geben, das dieser benötigt und umgekehrt wird im nehmenden Partner ein Wohlbefinden erzeugt. Dieses Gefühl des Wohlbefindens ist die eine Gefühlsseite des positiv verstandenen Narzissmus und das Glücksgefühl des Gebenden die andere Seite. Das menschliche Individuum benötigt zu seiner gesunden Entwicklung ständig eine derartige Zuwendung. Die Bestätigung des eigenen Verhaltens durch den Mitmenschen oder die Gesellschaft erzeugt dieses Wohlbefinden, das zum Wachstum des Individuums erforderlich ist. Der Säugling wächst nicht nur aufgrund der Zufuhr von Kalorien körperlich, sondern er wächst durch die Zufuhr dieser Bestätigung, dieser Liebe, auch geistig und entwickelt sich. Die Inder kennen die so genannte selbstlose und bedingungslose Liebe, die Maitri. Sie übersehen jedoch, dass diese Liebe nur selbstlos ist, wenn man die Betrachtung auf die materielle Seite des Gebens beschränkt. Denn der Gebende hat eben auch ein Befriedigungsgefühl durch das Geben und dadurch, dass er einer hilfesuchenden Person etwas Gutes tun konnte.
So hat die Mutter nicht nur ein Glücksgefühl dieser Art, wenn sie ihren Säugling befriedigt, ihm die Brust gibt, sondern auch die Frau hat dieses befriedigende Wohlgefühl, wenn sie ihren Partner sexuell befriedigt. Beim Geschlechtsakt kann es beispielsweise dazu kommen, dass der Mann ein sexuelles Glücksgefühl, einen Orgasmus, erlebt und die Partnerin bei diesem Akt ein symbiotisches (narzisstisches) Glücksgefühl empfindet, weil sie dem bedürftigen Mann ein Glücksgefühl geschenkt hat. Vermutlich wird Ihnen das bekannt vorkommen, liebe Freundin. Der Partner könnte dabei sogar doppeltes Glück erleben, nämlich neben dem Orgasmus auch das Gefühl, geliebt zu werden. Dieses schöne Gefühl, bestätigt, geliebt, anerkannt zu werden, das nicht nur ich als narzisstische Zufuhr betrachte. Liebe in diesem Sinn zu geben, erzeugt im Gebenden und im Nehmenden Glücksgefühl. So kann die Frau nicht nur als Mutter ihren Säugling körperlich und geistig nähren, sondern auch ihren Liebhaber sexuell befriedigen und geistig nähren (bestätigen), wenn sie ihm die Brust gibt. Dieses symbiotische Glücksgefühl erlebt die weibliche Partnerin einer Beziehung vermutlich in der Regel stärker als der männliche Partner.
Die liebenden Körperteile und die chinesische Philosophie
Die Körperteile, die das Individuum zum Lieben nutzt, sind hinsichtlich der sexuellen Liebe jedem klar, sie seien deshalb nur der Vollständigkeit halber kurz erwähnt. Es handelt sich um die augenfälligen Sexualorgane, den Penis des Mannes sowie die Scheide und Brust der Frau. Das Ziel der Natur besteht darin, die männlichen Spermien in der Scheide zu platzieren, um die Befruchtung der Eizelle einzuleiten.
Die besonders sensiblen Körperteile, die Eichel des Mannes und die Clitoris der Frau, spielen natürlich auch bei der symbiotischen Form der Liebe eine Rolle. Es geht beim intimen Zusammensein nie um ein Entweder-Oder, sondern es handelt sich stets um ein Sowohl-als-auch.
Die Zusätzlichen Organe der symbiotischen Liebe sind insbesondere die gesamte Hautoberfläche und der Liebesmuskel des Menschen. Es handelt sich dabei um die Zunge. Die Mundschleimhaut, die Zunge und die Hautoberfläche sind bereits die Organe, mit deren Hilfe der Säugling mit seiner Mutter verschmilzt. Diese Verschmelzung ist das Vorbild für die spätere symbiotische Liebe des Erwachsenen zu seinem Partner. Die Haut ist übrigens im Bereich der Hände und Finger besonders gut mit Nervenendigungen für die verschiedenen Gefühlsqualitäten ausgestattet. Daher kann man auch die Hände des Menschen nicht nur als Arbeitsorgane betrachten, mit denen man Werkzeuge bedienen kann, sondern ebenfalls als Liebesorgane. Ihre Funktion ist das Streicheln und die Umarmung im Rahmen der körperlichen Verschmelzung im symbiotischen Liebesakt.
Zum besseren Verständnis, liebe Freundin und lieber Leser, möchte ich diese beiden Grundformen der Liebe in Beziehung setzen zur chinesischen Vorstellung von Yin und Yang. Die sexuelle Liebe, deren natürliches Ziel die Ausbreitung der Spermien bzw. die Vergrößerung der Art ist, ordne ich dabei dem Yang zu, dem männlichen Prinzip der chinesischen Philosophie und die symbiotische Liebe, die die Vereinigung, die Verschmelzung der Partner zum Ziel hat und mit Kuscheln, Streicheln bzw. intensivem Kontakt von Haut und Schleimhäuten einhergeht, ist aus meiner Sicht assoziiert mit dem Yin, dem weiblichen Prinzip der chinesischen Philosophie.
Die symbiotische Liebe zu vielen Menschen
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat den Begriff der Sublimation eingeführt, der ausdrücken soll, dass Verhaltensweisen, die sexuellen Ursprungs sind, beim Menschen in verfeinerter Form zu beobachten sind. Klassisches Beispiel dafür ist der Künstler, dem es "eigentlich" um die Befriedigung sexueller Wünsche gehe, die er nun mittels künstlerischer Betätigung etwas verdeckt befriedigt. Diese Interpretation mag in einigen Ausnahmefällen berechtigt sein, generell sehe ich in künstlerischen Aktivitäten jedoch eher eine Befriedigung der zweiten Grundform der Liebe, also der symbiotischen Wünsche bzw. der bedingungslosen Liebe oder der Maitri. Auch hier gibt es selbstverständlich unterschiedliche Betrachtungsweisen, die von der "Interpunktion" der Interaktion abhängen, ein Begriff, den Watzlawick eingeführt hat (Paul Watzlawick: Menschliche Kommunikation). In der Regel wird die künstlerische Aktivität psychologisch so interpretiert, als ob es der Künstlerin oder dem Künstler darum gehe, bewundert zu werden. Es gehe ihm – wie auch dem Menschen im Allgemeinen – um die Anerkennung, um den Erfolg. Der Künstler wird danach als typischer Narzisst angesehen, und das in abwertender Weise, als wenn es sich um etwas Krankhaftes handeln würde.
Im Gegensatz dazu steht meine Interpretation, lieber Leser. Auch dem Künstler geht es, wie dem weiblichen Menschen in der Sexualität, nicht darum, etwas zu bekommen, also bewundert zu werden, sondern vielmehr darum, etwas zu geben: primär will die Künstlerin oder der Künstler seinen Mitmenschen Freude bereiten. Er hat den Wunsch, seinem Publikum zu helfen, Einsichten zu erzeugen, sich zu entspannen, die Widrigkeiten der Realität vorübergehend zu vergessen oder besser zu ertragen usw.. Wenn dies vom Publikum mit Beifall, Lob und Anerkennung bedacht wird, animiert dies den Künstler natürlich zur Fortsetzung seines Verhaltens. Es handelt sich also um einen Regelkreis mit positiver Rückkopplung: das Verhalten, das ein positives Feedback bekommt, wird verstärkt. Und diese positive Rückkopplung führt zu weiterer Anstrengung des Künstlers, sich zu verbessern. Hintergrund und Ursprung ist jedoch nicht der Wunsch nach Anerkennung, also das Verlangen, etwas zu bekommen, sondern der Wunsch, den Mitmenschen etwas zu geben. Wir sehen aber auch hier, dass diese Art der Liebe, die ich in früheren Veröffentlichungen als narzisstisch bezeichnet habe, nunmehr jedoch als symbiotisch, sozusagen auf Gegenseitigkeit beruht, wie die Interaktion bzw. Spiegelung zwischen Mutter und Säugling.
Der Unterschied besteht allerdings darin, dass es der Mutter um eine spezielle Person geht, während der Künstler/die Künstlerin vielen Menschen Freude bringen möchte. Die Schauspielerin oder der Musiker auf der Bühne hat Hunderte von "Objekten", die sie erfreuen möchten, der Filmschauspieler vielleicht Millionen von Zuschauern, der Schriftsteller alle Menschen, die seine Sprache sprechen, die Malerin die gesamte Menschheit.
Die übergeordnete Betrachtung
In der Natur findet man auf allen Ebenen vergleichbare Kräfte walten. Die Chinesen sprechen von Yin und Yang und meinen damit universell gültige Kräfte. Ich sehe in lebenden und in nicht lebenden Systemen ebenfalls vergleichbare Kräfte wirken. In der physikalischen Natur gibt es beispielsweise die Kraft der Gravitation. Hier zieht Gleiches Gleiches an. Masse wirkt anziehend auf Masse. Dies führt zum Wachstum der Masse. Dies wäre vergleichbar mit der symbiotischen Liebe im hier beschriebenen Verständnis, weil sie in beiden Partnern eine ähnliche Grundform von Liebesgefühlen erzeugt.
In der physikalischen Natur gibt es jedoch auch die elektrischen und magnetischen Kräfte. Bei diesen zieht sich Gegensätzliches an und Gleiches stößt sich ab. Dies wäre vergleichbar mit der sexuellen Anziehungskraft im Bereich lebender Systeme. Im sexuellen Bereich wirkt Gegensätzliches besonders anziehend.
Schön wäre es allerdings, wenn die sich anziehenden gegensätzlichen Kräfte im Bereich lebender Systeme sich auch als gleichwertig betrachten würden, und nicht der eine Teil der Menschheit den Drang hätte, den anderen als minderwertig zu betrachten und sich als Herrscher aufzuspielen.
Leider erleben wir heutzutage aus meiner Sicht in der europäischen Kultur einen Rückschritt, indem männliche Herrschaftssysteme religiöser und weltlicher Art wieder verstärkt die Gleichberechtigung der Frau missachten und die Fortschritte des Zeitalters der Aufklärung zurückdrehen. Die faschistischen Denkstrukturen und Persönlichkeitsstrukturen, die sich in tausenden von Jahren in Religionsgemeinschaften und Monarchien verfestigt haben und im Mann kollektiv zu Beherrschungswünschen führen und in der Frau kollektiv zu Unterwürfigkeit, sind noch lange nicht abgeschafft. Zum Glück sind diese nicht genetisch programmiert, sondern gesellschaftlich durch Erziehung geschaffen worden und könnten auch wieder aberzogen werden.
Leider werde ich diese Zeit einer gleichberechtigten Gesellschaft nicht erleben. Ich kann sie aber bereits jetzt im Kleinen verwirklichen.
Das lässt hoffen und macht mich optimistisch, so dass ich mit einer emanzipierten Frau wie Ihnen, liebe Freundin, auf Augenhöhe diskutieren und zusammen einen Kaffee genießen kann.
Rudi Zimmerman, Berlin, Februar 2018
1 Gabbert, Thomas: Anwendung der Narzissmustheorie im Strafverfahren (forensische Narzissmustheorie). In: Archiv für Kriminologie, 2009, 116-1261 |